Anscheinend ist es schwierig, im Körper zu Hause zu sein, manchmal gar kaum auszuhalten. Nicht umsonst laden viele Übungen in Selbsterfahrungsseminaren dazu ein, in den Körper zu kommen, so als wären wir nicht ganz in ihm. Inwiefern sind wir nicht verbunden mit unserem eigenen Körper – und wie kommen wir wieder dahin?
Körperselbst und Entfremdung Bei kleinen Kindern kann man gut beobachten, wie sie Wünsche und Bedürfnisse noch direkt äußern und der Gefühlsausdruck von etwa Freude, Schmerz und Angst oft den ganzen Körper erfasst und bewegt. Sie fließen ursprünglich frei mit ihren Impulsen und Gefühlen, ohne dass kognitive Prozesse hemmend beteiligt wären. Kleine Kinder haben ein Gefühl für ihr „Körperselbst“ und dafür, was ihren Organismus unterstützt oder zu bedrohen scheint. Danach entscheiden sie impulsiv, ob sie sich zu- oder abwenden. Nun wächst aber jedes Kind in enger Abhängigkeit zu mindestens einem erwachsenen Vorbild heran.
Zwei Mechanismen führen dazu, dass das Kind seinen Ausdruck nach und nach anpasst. Erstens lernt es direkt durch Beobachtung der Bezugspersonen, wie sie mit bestimmten Situationen und Gefühlen umgehen, und ahmt erlebtes Verhalten nach. Zweitens wird es, je nachdem, welche Reaktion es auf seinen eigenen Ausdruck bekommt, jenes Verhalten verstärken, welches akzeptiert oder gar belohnt wird, und jenes Verhalten vermeiden, welches bedrohliche Folgen hat. Es lernt also am Modell, was wie auszuhalten und zu fühlen ist und auch, ob und wie es selbst ausgehalten wird. Diese Lernvorgänge geschehen größtenteils unbewusst und schon in der vorsprachlichen Entwicklung. Und auch später spielen die gespiegelten Bewertungen und Zuschreibungen des eigenen Verhaltens durch andere Menschen eine wichtige Rolle bei der Findung dessen, was man Selbstbild nennen kann.
Identität als sicherer Rahmen Da so gelernte Annahmen im Laufe der Entwicklung eher fortlaufend bestätigt werden, werden hieraus starke Gewohnheiten und letztlich eine Identität – die Überzeugung: So bin ich, und nur so darf ich sein. Die eigene Identität überlagert, überformt oder unterdrückt demnach teilweise das ursprüngliche Körperselbst, das heißt, der Zugang zum eigenen Körper(gefühl) ist mehr oder weniger blockiert. Das Zurückhalten von inneren Regungen, Bewegungen und Handlungen führt unweigerlich zu Anspannung, über die Zeit zu Verspannungen bis hin zu Bewegungseinschränkungen und Schmerzen – auf seelischer, mentaler und körperlicher Ebene. Anpassung führt zu einer gewissen Sicherheit, aber in neuen Umgebungen, in neuen Beziehungen erfährt man diesen Rahmen möglicherweise als beschränkend. Wenn die Nachteile und Schmerzen der Angepasstheit überwiegen, man sich beispielsweise als depressiv erlebt, entsteht der Wunsch, an seinen Denk-, Verhaltens- und Haltungsmustern etwas zu ändern.
Anpassung oder Intensität Was genau halten wir eigentlich nicht aus? Letztlich geht es um Intensität. Empfindungen und Gefühle können eine Intensität erreichen, die das Nervensystem und Bewusstsein stark fordern. Solche akut oder dauerhaft belastenden Eindrücke können dazu führen, dass man aus dem körperlichen Empfinden aussteigt, es abspaltet, dissoziiert. Man bewegt sich aus der Offenheit des Ja in ein Nein, man will das nicht erleben. Das ist vor allem der Fall, wenn eine adäquate Reaktion nicht möglich ist oder nicht möglich erscheint. Hier berühren wir auch den Bereich von Trauma und erlerntem Umgang mit Bedrohung. So wie bei der oben beschriebenen Anpassung Angst ein grundlegender Motivator ist, führt meist auch Angst hin zu dem Gedanken, etwas nicht aushalten zu können. Man weiß nicht, dass man es aushalten würde, weil man es noch nicht ausgehalten hat – oder niemanden erlebt hat, der es (mit einem) ausgehalten hätte.
Bahnung und Neuroplastizität Neurophysiologischen Erkenntnissen zufolge ist Veränderung jederzeit möglich. Die Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen sind ständig im Auf- und Umbau, je nachdem, in welcher Kombination sie aktiviert, also wie sie benutzt werden. So wie für Muskeln, die je nach Benutzung wachsen oder verkümmern, heißt es auch für neuronale Verknüpfungen: Use it or lose it! Neue Verbindungen zu initiieren oder zu stärken braucht Zeit und Wiederholungen. Und da die mentale, emotionale und körperliche Ebene so eng miteinander agieren, kann über den Zugang auf einer Ebene Veränderung im Gesamtsystem erreicht werden. Veränderung gestaltet sich praktisch jedoch schwierig, da wir es mit starken Gewohnheiten und zum Teil mit Identifikation zu tun haben. Die altbekannten, immer wieder benutzten Tendenzen rufen uns gleichsam, denn sie gaben auch Sicherheit und Orientierung. Da kennen wir uns aus. Jeder kleine Schritt auf einem unbekannten Terrain hingegen fordert uns heraus und löst all die Unsicherheit oder Ängste aus, die wir doch so erfolgreich zu vermeiden suchten. Es kostet Überwindung und Energie, auf einem noch unausgetretenen Pfad zu bleiben – und es fühlt sich so viel lebendiger an!
Körperarbeit ist Bewusstseinsarbeit Körpertherapie spricht das Unbewusste des Menschen direkt über die somatische Ebene an. Durch Berührung, aktive und passive Bewegung kann der Klient mit Empfindungen und Räumen in sich selbst in Kontakt treten, die er zum Teil sehr lange nicht wahrgenommen hat. Er erfährt, wie bewohnt sein eigener Körper in bestimmten Bereichen ist und was Berührung und Bewegung dort in ihm auslöst – und kann sich sich Schritt für Schritt abgespaltenen Anteilen annähern und sie schließlich integrieren. Im Rebalancing, mit dem ich arbeite, gehört immer auch das Körperlesen zu einer Sitzung, wobei die Klienten sich zwanglos im Raum hinstellen und selbst beschreiben, wie sie sich im Moment wahrnehmen. Oft zeigt sich, dass die körperliche Erscheinung zu dem passt, wie die Person sich fühlt oder darstellt. Beispielsweise sehe ich immer wieder überwiegend Frauen, die sich mit sehr eng neben-einander platzierten Füßen hinstellen. Das vermittelt den Eindruck, dass sie nicht (zu) viel Raum einnehmen wollen. Bitte ich sie, sich etwas breiter hinzustellen, nur um es einmal auszuprobieren, dann ist ihnen das so fremd, dass es sich ganz komisch anfühlt, richtig unangenehm! Manchmal reicht so eine kleine Anregung, um im Inneren eine Kaskade an Geschichten und Emotionen auszulösen, ein regelrechtes Aha-Erlebnis. So kommen Klienten sich nach und nach selbst dahingehend auf die Spur, dass sie erkennen, was sie zu bestimmten Haltungen veranlasst, und können erproben, wie sich eine neue Haltung anfühlt – und welche Reaktion sie heute daraufhin bekommen.
Integration von vermiedenen Erlebensräumen Wer jahrzehntelang seinen Herzraum zu schützen versucht, indem er ihn zurückzieht, kann irgendwann gar keine andere Haltung mehr einnehmen. Die Faszien im Brust- und Bauchraum sind verkürzt und halten die Enge, die Sicherheit versprach. Diese Art von Schutz hat ihren Preis: Zwangsläufig verflacht sich die Atmung, und auch die Verdauungsorgane haben weniger Raum – Rücken und Nacken hingegen schmerzen. Der Blick wird nur noch selten gehoben, und dementsprechend ist auch die Stimmungslage. Denn so wie ein Gefühl unsere Haltung binnen Sekunden verändern kann, wirkt sich eine dauerhaft eingenommene, verfestigte Haltung rückkoppelnd permanent emotional und mental auf uns aus. Über eine achtsame, langsame Berührung der unbeweglich gehaltenen Strukturen im Brustbereich kann eine Öffnung erfahren werden – und vielleicht wird damit auch der Schmerz spürbar, der einst das Verlangen nach Schutz auslöste. Über den Atem kommen Aufmerksamkeit und Beweglichkeit zurück in den Brustraum, die Arme fangen vielleicht an zu kribbeln, und die vergrabene Sehnsucht nach Kontakt wird wieder spürbar. Tiefes Berührtsein, Dankbarkeit und erleichtertes Durchatmen sind mögliche Geschenke einer solchen Sitzung.
Wie fühlt sich das an? Oft ist es hilfreich, nicht zu sehr in die verknüpften Geschichten einzusteigen, sondern die Aufmerksamkeit immer wieder zurück zur körperlichen Empfindung zu lenken. Ich selbst kenne die Tendenz, Empfindungen einsortieren zu wollen und vorschnell zu sagen: „Ich bin wütend.“ Und natürlich kann ich dann ein Warum dafür finden und bewege mich damit schon lange wieder aus der Empfindung heraus – und hinein in den Kreislauf von Emotion, Geschichte, Reaktion. Da gibt es nichts Neues zu erfahren, nur Wiederholung. Die erlernten Erwartungen der Konsequenz von „Ich bin wütend“ sind mit im Boot: das Erleben verbaler oder körperlicher Gewalt als Täter oder Opfer, Ablehnung und Ungeliebtsein… Also ermutige ich auch in der Körpertherapie dazu, bei der körperlichen Empfindung zu bleiben, und lasse sie mir so genau wie möglich beschreiben. Darin gibt es keinen Schrecken, wohl ein Zittern in den Beinen, Druck und Energie im Bauch, die irgendwo hin will, Spannungen in den Unterarmen und Händen und im Kiefer, es wird echt warm und … Wow, das fühlt sich kraftvoll an, wenn ich Ja dazu sage! Körperliche Empfindungen und Bewegungen können auf diese Weise neu bewertet und willkommen geheißen werden.
Aushalten – oder sogar mehr? So erfährt der Klient, dass er sich selbst aushält – und dass auch jemand anders ihn aushält mit all dem, was bislang im Fühlen, Handeln oder Aussprechen vermieden wurde. Die Begleitung und der Halt, der Bezug zu jemandem, in diesem Falle zu mir als Therapeutin, kann bahnbrechend sein für das Zulassen eines starken Gefühls, eines Körperzitterns, über das sich lange gehaltene Spannungen entladen – und letztlich auch für das Auflösen all der Zweifel und Gedanken, die diesen Prozess immer wieder unterbrechen. Zugleich gibt es einen Rhythmus darin, sich den herausfordernden Bereichen anzunähern und davon auszuruhen im sicheren Kontakt. Der Klient erfährt Selbstermächtigung („Ich kann die Spannung lösen“), Erlaubnis („Ich darf so sein“) und dass er es nicht alleine aushalten muss. Meine Rolle in dem Prozess ist die des Zeugen, geprägt von Annahme und Gelassenheit. Eine Mischung aus Ermutigung, Entspannung und Zuversicht unterstützt den Klienten und gibt Sicherheit im Erforschen neuer Räume – oder besser gesagt im Zurückerobern. Auch eine Prise Humor ist dabei oft hilfreich. Nach und nach entsteht womöglich eine Neugierde auf mehr von sich selbst, und die innere Erwartung wandelt sich vom Druck, etwas aushalten zu müssen (bis es endlich vorbei ist) hin zu einem liebevollen und wachsenden Interesse und Genuss an sich selbst – im eigenen Leben, im eigenen Körper.
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